Hermann Scherchen (1891–1966)



Menerbes; Archives famille Scherchen/Myriam Scherchen


Bereits als Kind erhält Hermann Carl Julius Scherchen (1891–1966), der in Berlin-Schöneberg zur Welt kommt, Violinunterricht. Sein erstes Engangement bekommt er 1907 als Bratscher beim Blüthnerorchester in Berlin. Er spielt im Philharmonischen Orchester und an der Berliner Krolloper, daneben bildet er sich autodidaktisch durch intensives Partiturstudium als Musiker weiter. Er debütiert 1911 als Dirigent von Arnold Schönbergs »Pierrot lunaire« und erhält 1914 eine Anstellung als Kapellmeister des Sinfonieorchesters Riga. Dort überrascht ihn der Erste Weltkrieg, er wird interniert und kommt in russische Gefangenschaft, wo er die Sprache lernt, sich in sozialistische Literatur vertieft und auch komponiert.
Als er nach Berlin zurückkommt, nimmt Scherchen eine Vielzahl an Tätigkeiten als Dirigent und Vermittler Neuer Musik auf. Er tritt dabei als Pädagoge, Orchestergründer und -erzieher, Forscher, Komponist, Schriftsteller und Herausgeber von Zeitschriften, wie der Musikzeitschrift »Melos« 1919/20, sowie als Organisator von Arbeitstagungen und Mitbegründer der »Neuen Musikgesellschaft Berlin« auf. Als Nachfolger von Wilhelm Furtwängler (1886–1954) übernimmt er 1922 die Leitung der Sinfoniekonzerte der Frankfurter Museumsgesellschaft. Ohne dass er Parteimitglied ist, bekennt er sich als politisch links und Freund der Sowjetunion, so engagiert er sich als Dirigent des Arbeitersängerbundes.
Durch eine Empfehlung des Kunstmäzens und Sammlers Werner Reinhart (1884–1951) kommt er 1923 in Kontakt mit dem Musikkollegium Winterthur, mit dem er bis 1950 erfolgreich zusammenarbeitet. Scherchen lebt 1922 in Cronberg im Taunus. Im gleichen Jahr dirigiert er auf dem 2. Donaueschinger Kammermusikfest zwei Uraufführungen. Seinen Frankfurter Meldeunterlagen nach zieht er am 10.05.1924 von Cronberg nach Frankfurt und wohnt dort kurzzeitig in der Forsthausstraße 99a sowie ab 07.08.1924 in der Karmelitergasse 5, wo gemäß der auf der Rückseite des Bildes »Großstadt« von Rudolf Heinisch angebrachten Bezeichnung 1924 auch der Maler ebendieses Bildes lebt.
Scherchen führt als Dirigent ein bewegtes Leben, in dem er mehrfach umzieht, Konzerte im In- und Ausland gibt. Gemäß der im Landesarchiv überlieferten Meldeakten ist er ab 13.11.1926 in Berlin-Halensee ansässig. Ob Hermann Scherchen zeitweise im Hotel Excelsior in Frankfurt oder im Hotel Excelsior in Berlin logiert, lässt sich anhand der im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main und im Landesarchiv Berlin überlieferten Archivbestände nicht ermitteln. Korrespondenz zwischen Scherchen und Heinisch sind an keinem der beiden Standorte zu finden.
1929 wird Scherchen als Generalmusikdirektor für die Musikabteilung am Königsberger Ostmarkenrundfunk nach Königsberg berufen. In demselben Jahr erscheint auch sein »Lehrbuch des Dirigierens«.

Aufgrund seines nachdrücklichen Einsatzes für Neue Musik und seiner politischen Einstellung wird Scherchen laut Hansjörg Pauli in seiner Monografie über Scherchen bereits vor 1933 diffamiert. Im Frühjahr 1933 siedelt der Musiker dauerhaft in die Schweiz um, was er nach eigener Aussage jedoch nicht als Exil versteht. Zum Zeitpunktes seiner Ausreise war es noch nicht zu formellen Aufführungsverboten im »Dritten Reich« gekommen. So beschäftigt sich Scherchen auch weiterhin mit der in Deutschland verpönten und verbotenen Neuen Musik. 1935 gründet er in Brüssel den Musikverlag Ars viva, der zeitgenössische Partituren und Textbücher verlegt. Es gelingt ihm, seine Karriere auch mit Aufenthalten in Frankreich, England und Belgien weiter auszubauen. Während des Zweiten Weltkrieges beschränkt sich Scherchens Wirken laut Sophie Fetthauer im LEXIKON VERFOLGTER MUSIKER UND MUSIKERINNEN jedoch auf die Schweiz. Fetthauer verweist in ihrer Veröffentlichung über Scherchen darauf, dass seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht ursächlich mit der Exilsituation zusammenhängen, sondern auf die finanziell riskante Gründung des Ars viva Verlages zurückzuführen sind. Nach 1945 setzt Scherchen seine Tätigkeiten ungehindert fort, nimmt neue Aufträge bzw. Positionen für das Studio-Orchester beim Radio Beromünster, der Schweizerischen Rundfunkgesellschaft in Zürich und der Nordwestdeutschen Philharmonie Herford an. 1950 erfolgt eine Neugründung des Musikverlags Ars viva in Zürich. Auch als sein Vertrag mit dem Musikkollegium Winterthur aufgrund seiner politischen Sympathie für den Kommunismus und der aktiven Teilnahme an kommunistischen Veranstaltungen 1950 beendet wird, bleibt er in der Schweiz, siedelt aber nach Gravesano im Tessin über. Dort beantragt er die Einbürgerung in die Schweiz, zu der es aufgrund seines Todes am 12.06.1966 in Florenz jedoch nicht mehr kommt.

Es ist nichts über eine Kunstsammlung von Hermann Scherchen bekannt. Ob also das Gemälde »Großstadt« von Rudolf Heinisch je Eigentum des Dirigenten war, wie eine rückseitige Aufschrift vermuten lässt, erscheint nicht nur wegen der häufigen Ortswechsel unwahrscheinlich, sondern auch durch den Transfer des Bildes aus dem Künstlernachlass in das Eigentum der Buchheim Stiftung.

JL

17.11.2021

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