Sammlung Niemeyer



Foto: Minya Diéz-Dührkoop; Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv, NL Niemeyer, Wilhelm, I,A-3b (0018)


Wilhelm Niemeyer (1874–1960) kommt in Barchfeld bei Eisenach als Sohn eines Pastors zur Welt. Nach seinem Abitur in Gießen 1982 studiert er Geschichte und Philosophie, ab 1899 auch Kunstgeschichte an der Universität in Heidelberg. 1901 wechselt er die Universität und geht nach Leipzig, wo er das Studium mit einer Promotion zum Stilwandel von der Spätgotik zur Renaissance bei August Schmarsow (1853–1936) abschließt. Nach der Übernahme der Verwalter der Bibliothek des Berliner Kunstgewerbemuseum im Jahr 1904, wird er 1905 als Dozent zunächst an die Kunstgewerbeschule Düsseldorf und dann 1910 nach Hamburg berufen. Dort wird er als Dozent für Kunstgeschichte und Leiter der Bibliothek an der Staatlichen Kunstgewerbeschule tätig. Er gehört bereits 1909 zu den Mitbegründern des »Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde und Künstler«, einer Vereinigung von Sammlern, Künstlern und Museumsfachleuten unter dem Vorsitz von Karl Ernst Osthaus, Gründer des Folkwang Museum in Hagen, der bis 1912 besteht. 1911 übernimmt Niemeyer die Geschäftsführung und ist auch Vorstandsmitglied.

Im September 1911 besucht Niemeyer Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976) in Dangast, eine langjährige Freundschaft entwickelt sich. Es gelingt dem Kunsthistoriker, Schmidt-Rottluff für den Sonderbund zu gewinnen. Zwar befindet sich der Kunsthistoriker 1912 nicht mehr im Arbeitsausschuss für die Planung der »Internationalen Kunstausstellung des Sonderbundes Westdeutsche Kunstfreunde und Künstler zu Cöln«, trotzdem werden nicht nur drei Gemälde, sondern auch drei kunsthandwerkliche Arbeiten des Künstlers im Rahmen der Ausstellung gezeigt, wie u. a. auch das Gemälde des Buchheim Museums »Dorfweg« (Inv. 0.00027). Niemeyer erwirbt es selbst, vermutlich direkt aus der Ausstellung.

Laut Angaben im Ausstellungskatalog »Private Schätze. Über das Sammeln von Kunst in Hamburg bis 1933« umfasste Niemeyers private Kunstsammlung kunstgewerbliche Arbeiten, fast die vollständige Druckgrafik und 11 Gemälde von Karl Schmidt-Rottluff. Daneben besitzt er spätestens 1917 nachweislich auch Werke von August Deusser (1870–1942), Otto Freundlich (1887–1943) und Othon Friesz (1879–1949). Von 1952 bis 1969 gelangen 249 Druckgrafiken dieser Sammlung als Leihgaben in die Hamburger Kunsthalle, die sich durch Verkäufe und Geschenke 1956 jedoch reduziert. Nach Niemeyers Aufruf im Juni 1920 zu der Gründung eines Kunstbundes zur Pflege jüngster Kunst und Dichtung in Hamburg, entsteht die Zeitschrift »Rote Erde« und später die »Kündung«, die er zusammen mit der Kunsthistorikerin und Sammlerin Rosa Schapire (1874–1954), eine Enthusiastin für Schmidt-Rottluffs Werk, 1921 in 12 Heften herausgibt. Seine Freundschaft zu Schmidt-Rottluff zerbricht um die Jahreswende 1921/22, nachdem Niemeyer sich ab 1920 dem Künstler Franz Radziwill (1895–1993) zuwendet und ihn, auch durch eigene Ankäufe, unterstützt.

1938 wird Niemeyer von den Nationalsozialisten vorzeitig in den Ruhestand versetzt, nachdem er 1937 Kritik an der Prangertafel der Müchner Ausstellung »Entartete Kunst« übt. Niemeyer verstirbt in Hamburg. Teile seiner Sammlung wie u. a. das Doppelgemälde mit einem Porträt von Rosa Schapire (rekto), 1915, und einer Landschaft (verso) von Schmidt-Rottluff werden am 04.02.2008 bei Christie’s London veräußert.

Der Zeitgenosse Ramon Neckelmann (Lebensdaten unbekannt) erinnert sich mit nachfolgenden Worten an die Sammlung des Kunsthistorikers: »Wer die Niemeyersche Wohnung in der Hartwicusstraße hoch über dem Eilbekkanal betrat, hatte Gelegenheit, die Macht der Bilder zu erfahren. Über den dunklen Flur gelangte man in drei große, stilvoll eingerichtete, durch Schiebetüren miteinander verbundene, schöne Räume. Auf hellblau, perlblau und dunkelgrün gestrichenen Wänden erstrahlten die schönsten frühen Schmidt-Rottluffs, die je in einer Hamburger Privatsammlung vereinigt waren.«

Der Nachlass von Niemeyer der Tagebücher, Fotos, Texte, eigenhändige Gedichte, Korrespondenzen und umfassendes Arbeitsmaterial zu seiner beruflichen Tätigkeit umfasst, befindet sich im Deutschen Kunstarchiv in Nürnberg.

JL

30.06.21

Literatur

Gerhard Wietek: KARL SCHMIDT-ROTTLUFF IN HAMBURG UND SCHLESWIG-HOLSTEIN, hrsg. v. Gerhard Wietek, Neumünster: Karl Wachholtz Verlag, 1984

PRIVATE SCHÄTZE. ÜBER DAS SAMMELN VON KUNST IN HAMBURG BIS 1913, hrsg. v. Ulrich Luckhardt, Uwe M. Schneede, m. Texten von Ulrich Luckhardt, Olaf Matthes, Thomas Ketelsen, Silke Reuther, Carla Schmincke, Saskia Helin, Alexander Bastek, Stefanie Busold, Christine Claussen, Dagmar Lott-Reschke, Indina Woesthoff, Maike Egge, Karin Schick, Hans Theodor Flemming, Maike Bruhns, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle (23.03.–17.06.2001), Hamburg: Christians Verlag, 2001, S. 237

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