Sammlung Kestenberg



Fotograf/Fotografin unbekannt (Ausschnitt); aus: BERLIN SW – VICTORIASTRAßE 35. ERNST BARLACH UND DIE KLASSISCHE MODERNE IM KUNSTSALON UND VERLAG PAUL CASSIRER, Ausst.-Kat. Ausstellungsforum und Graphikkabinett Ernst Barlach Stiftung Güstrow 2003, S. 71


Leo Kestenberg (1882–1962) wird im damals ungarischen Rózsahegy (dt. Rosenberg), heute das slowakische Ružomberok, geboren. Als Kestenberg vier Jahre alt ist, siedelt seine Familie zunächst nach Prag und einige Jahre später nach Reichenberg, heute Liberec in Tchechien über. Bereits als kleiner Junge erlernt er das Klavierspielen von seinem Vater Adolf Abraham Kestenberg (1856–1930), der als jüdischer Kantor tätig ist. Später wird er von dem königlich-sächsischen Musikdirektor Gustav Albrecht (1825–1901) in Zittau unterrichtet. Aus diesen Jahren rührt auch seine Verbindung zu dem jüdischen Rechtsanwalt, Dr. Hugo Reichmann (1868–1942), der ihn als kulturellen Förderer und finanzieller Mäzen begleitet. Er sorgt dafür, dass Kestenberg einen Platz in der Meisterklasse des Komponisten Ferruccio Busoni (1866–1824) in Weimar erhält. 1900 wird Kestenberg Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und kann erste Texte in der sozialistischen Wochenzeitung DER FREIGEIST veröffentlichen. Erste Konzerterfahrung gewinnt Kestenberg als Mitglied eines Militärorchesters. 1904 debütiert er als Konzertpianist in Reichenberg mit Franz Liszt (1811–1886).

1908 erhält Kestenberg eine Anstellung als Klavierlehrer am Sternschen Konservatorium in Berlin, gefolgt von einer zweiten Anstellung am Klindworth-Scharwenka Konservatorium. Kestenbergs politisches und kulturelles Engagement führt u. a. zu regelmäßig stattfindenden Mittagskonzerten für die Arbeiterschaft an der Berliner Freien Volksbühne, die bis 1933 bestehen wird. Während des Ersten Weltkriegs, 1916, wird Kestenberg Redakteur und Herausgeber des BILDERMANN, der pazifistischen Nachfolgezeitschrift der kriegsbejahenden KRIEGSZEIT, die beide von Paul Cassirer (1871–1926) verlegt werden und in denen Originalgrafik publiziert wird. Aus dieser Zeit stammen zahlreiche Freundschaften zu Künstlern und Autoren, wie Max Liebermann (1847–1935), Oskar Kokoschka (1886–1980) und Ernst Barlach (1870–1938). So malt Kokoschka 1926/27 ein Porträt von Kestenberg, das er ihm schenkt. Es ist ein für Kestenberg wichtiges Bild, das ihn somit auch in die Emigration nach Tel-Aviv begleitet und viele Jahre als Leihgabe im Bezalel-Museum Jerusalem, dem heutigen Israel-Museum ausgestellt wird. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wird Kestenberg Referent für musikalische Angelegenheiten im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, setzt sich aber auch weiterhin für den Verlag Paul Cassirer ein. In seiner 14-jährigen Amtszeit reformiert er die musikalische Erziehung in Preußen und kann viele bedeutende Komponisten, Pianisten und Dirigenten auf leitende Positionen oder Professuren berufen. Auch publiziert er zahlreiche programmatische Werke.

Bereits vor Beginn des nationalsozialistischen Regimes wird Kestenberg 1932 aufgrund des zunehmenden Antisemitismus in den Zwangsruhestand versetzt. Kurz nach der »Machtergreifung«, am 23.03.1933, flieht er gemeinsam mit seiner Familie nach Prag, wo er Mitbegründer der »Gesellschaft für Musikerziehung« ist und die Leitung für internationale Beziehungen übernimmt. Als die deutschen Truppen 1938 die Tschechoslowakei besetzen, immigriert Kestenberg nach Paris. Kurz darauf erhält er das Angebot, für das 1935 durch den Violinisten Bronisław Huberman (1882–1947) gegründete »Palestine Orchestra« in Tel Aviv das Amt des General Managers zu übernehmen.

1945 tritt Kestenberg freiwillig von seinem Amt zurück und widmet sich wieder der musikalischen Erziehung. So gründet er die »Midrasha leMenchanchim leMusika«, ein Seminar zur Ausbildung von Musiklehrern, das er bis 1952 leitet. 1953 wird Kestenberg für seine musikpädagogischen Verdienste zum ersten Ehrenpräsidenten der neu gegründeten »International Society for Music Education« ernannt. Kurz darauf erkrankt er an einer voranschreitenden, unheilbaren Erblindung. Trotz dieser Erkrankung erteilt er privaten Klavierunterricht. Kestenberg stirbt an den Folgen einer Angina Pectoris in Tel Aviv.

JL + CD

15.09.20

Literatur

Rahel E. Feilchenfeldt: »Leo Kestenberg im Kreis von Paul Cassirer und seinen Künstlern«, in: BERLIN SW – VICTORIASTRAßE 35. ERNST BARLACH UND DIE KLASSISCHE MODERNE IM KUNSTSALON UND VERLAG PAUL CASSIRER, hrsg. v. Helga Thieme u. Volker Probst, m. Texten von Christian Kennert, Walter Feilchenfeldt, Carsten Meyer-Tönnesmann, Ursel Berger, Peter Paret, Rahel E. Feilchenfeldt, Elisabeth Laur, Eva Caspers, F. Carlo Schmid, Volker Probst, Silvia Schlenstedt, Markus Brandis, Paul Raabe, Ulrich Bubrowski, Helga Thieme, Konrad Feilchenfeldt, Ausst.-Kat. Ausstellungsforum und Graphikkabinett Ernst Barlach Stiftung Güstrow (15.06.–07.09.2003), S. 69–80

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