Kunsthandel Nierendorf

Nierendorf Köln – Neue Kunst (1920–1924/25); Graphisches Kabinett J. B. Neumann, Leitung: Karl Nierendorf, Berlin (1923–1925); Galerie Nierendorf, Düsseldorf (1925–26); Galerie Neumann-Nierendorf, Berlin (1925–1933); Galerie Nierendorf, Berlin (1933–1939); Nierendorf Gallery, New York (1937–1947); International Art, Los Angeles (1944–1947); Galerie Meta Nierendorf, Berlin (1955–1963); Galerie Nierendorf, Berlin (ab 1963)



aus: Wolfgang Willrich: SÄUBERUNG DES KUNSTTEMPELS, 1937


Die Brüder Karl (1889–1947) und Josef Nierendorf (1898–1949) eröffnen ihre erste Kunsthandlung, die unter dem Namen ›Nierendorf Köln – Neue Kunst‹ firmiert, im Oktober 1920 in der Rheinmetropole. Ihren Einstand geben sie mit einer Ausstellung mit Werken von Emil Nolde (1867–1956). Den Recherchen der Kunsthistorikerin Anja Walter-Ris nach lassen sich die dort veranstalteten Ausstellungen nicht mehr vollständig rekonstruieren. Überliefert ist aber, dass die Brüder ein progressives zeitgenössisches Programm zeigen und Werke von Künstlern wie Paul Klee (1879–1940), Wassily Kandinsky (1866–1944), Lyonel Feininger (1871–1956) und Otto Dix (1891–1969) ausstellen. 1923 übernimmt Karl Nierendorf die Generalvertretung für Otto Dix, gibt dessen Druckgrafik heraus und vertreibt sie über seinen Kunsthandel.

Im Oktober 1923 geht Karl Nierendorf nach Berlin und wird bei dem nach New York ausgewanderten J. B. Neumann (1887–1961) Geschäftsführer im 1920 eröffneten ›Graphischen Kabinett‹. Von dieser Partnerschaft verspricht Nierendorf sich einen größeren Kunden- und auch Künstlerkreis. Neumann gründet seinerseits in New York eine neue Galerie und setzt die Zusammenarbeit mit Nierendorf in seiner Berliner Galerie von dort aus fort. Karls Bruder, Josef Nierendorf, bleibt in Köln und übernimmt die Leitung der Kölner Kunsthandlung bis zur Schließung der Galerie im Mai 1924, wonach er nach Berlin zur Unterstützung seines Bruders zieht.

Die Inflation stellt die Brüder Nierendorf vor große Herausforderungen, insbesondere in der Zusammenarbeit mit Neumann, der ebenfalls finanzielle Engpässe in den USA erlebt. Um diesen entgegenzuwirken, wandeln Karl Nierendorf und J. B. Neumann die Galerie in eine GmbH um, die bis 1933 als ›Neumann–Nierendorf‹ firmiert. Sie ziehen mit den Geschäftsräumen vom Kurfürstendamm 232 im Oktober 1925 in neue Räume am Lützowufer 32 um. Zur Eröffnung wird die Ausstellung WERKE LEBENDER DEUTSCHER KÜNSTLER gezeigt. Die Partnerschaft zwischen Nierendorf und Neumann leidet auch weiterhin unter Schulden, die beide mit ihren Kunsthandlungen haben. Walter-Ris führt Autonomiegründe und eine verlässlichere Kundschaft im Rheinland als Grund dafür an, dass Karl Nierendorf im Mai 1925 die ›Galerie Nierendorf‹ in der Capellstraße 6 in Düsseldorf unter Leitung Josef Nierendorfs gründet. Durch monatlich wechselnde Ausstellungen mit Werken von Emil Nolde (1867–1956), Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976), Christian Rohlfs (1849–1938), Otto Dix, Lovis Corinth 1858–1925, Wassiliy Kandinsky, Erich Heckel (1883–1970) oder Oskar Kokoschka (1886–1980) soll die Vielfalt der deutschen Avantgarde vorgestellt werden. Aus Kostengründen muss die Düsseldorfer Galerie im Frühjahr/Sommer 1926 jedoch wieder schließen.

Nach der Wahl von Adolf Hitler am 30.01.1933 zum neuen Reichskanzler und den politischen Veränderungen, die damit einhergehen, beschließen J. B. Neumann und Karl Nierendorf, da Neumann durch das NS-Regime als jüdisch verfolgt wird und der Geschäftsbetrieb dadurch zusätzlich gelitten hätte, ihre Partnerschaft aufzulösen. Neumann möchte sich losgelöst von einem Galeriebetrieb der Kunstvermittlung und -lehre zuwenden. Man trennt sich einvernehmlich, doch der geschäftliche Austausch beider Kunsthändler bleibt auch nach 1933 bestehen, vermutlich kommt es sogar zum Tausch von Kunstwerken. Die ›Galerie Nierendorf‹ firmiert bis zu ihrer Schließung 1939 unter diesem Namen. Bis 1937 mietet Nierendorf zusätzliche Ausstellungsräume am Schöneberger Ufer 38 an. Walter-Ris benennt die FRANZ MARC-GEDÄCHTNISAUSSTELLUNG in den Galerieräumen in der Lützowstraße als den letzten großen Höhepunkt der Galerie Nierendorf, bevor Karl Nierendorf wegen der zunehmenden Einschränkungen seiner Arbeit im Mai 1936 nach New York auswandert. Zunächst ist er sich nicht sicher, ob er sich dauerhaft dort niederlassen will. Angeregt durch eine Atmosphäre des Aufbruchs, die er nicht nur in New York, sondern auch in Los Angeles, wo er einige Wochen verbringt, empfindet, gründet er im Januar 1937 in New York die ›Nierendorf Gallery‹ mit Räumen direkt gegenüber dem Museum of Modern Art.

In Berlin muss Karls Bruder Josef im Laufe des gleichen Jahres den langjährigen Galeriestandort in der Lützowstraße aufgeben und aufgrund des Ausstellungsprogrammes mit Werken, die inzwischen als »entartetet« gebrandmarkt werden, in Lagerräume an das Groß-Admiral-von-Koester-Ufer 65, heute Schöneberger Ufer, ziehen. Josefs Ehefrau, Meta Nierendorf (1899-1981), geb. Correns, geschiedene Ehefrau des Bildhauers Joachim Karsch (1897–1945), ist gelernte Buchhändlerin und inzwischen Mitarbeiterin der Galerie. Nach Ausbruch des Krieges muss die Galerie Nierendorf ihren Betrieb in Berlin endgültig einstellen, verbleibende Werke werden zunächst in der Manfred-von-Richthofen-Straße eingelagert, später werden gemäß Walter-Ris‘ Recherchen Grafikbestände in die Eifel verbracht, kostbare Gemälde zu Freunden nach Muscherin in Pommern, heute Moskorzyn in Polen, wo sie während des Krieges zerstört werden.

Währenddessen baut Karl Nierendorf seine Geschäftsbeziehungen und seinen Kundenstamm in New York und parallel ab 1944 mit der Galeriegründung ›International Art‹ auch in Los Angeles aus. In seiner ersten nach dem Krieg veranstalteten Ausstellung FORBIDDEN ART IN THE THIRD REICH, PAINTINGS BY GERMAN ARTISTS WHOSE WORK WAS BANNED FROM MUSEUMS AND FORBIDDEN TO EXHIBIT stellt er 1945, vermutlich im Oktober, Werke von Künstlerinnen und Künstlern aus, deren Arbeiten in NS-Deutschland aus den staatlichen Museen beschlagnahmt worden waren. In dem von ihm herausgegebenen Katalog ist keine Exponatenliste enthalten. Die Ausstellung tourt danach weiter ins Institut of Modern Art in Boston. Nach einem langem Europaaufenthalt von 15 Monaten in der Schweiz, Frankreich, Deutschland, Italien und England verstirb Karl Nierendorf unerwartet am 25.10.1947 an einem Herzinfarkt. Da Karl Nierendorf kein Testament hinterlässt und sich Deutschland und die USA formal noch im Kriegszustand befinden, beschlagnahmt der Bundesstaat New York den Nachlass, der Mitte Januar 1948 in großen Teilen veräußert wird. Die Guggenheim Foundation erwirbt 732 Objekte, darunter nicht nur Kunstwerke, sondern auch Bücher, Möbel, Ausstellungskataloge und andere Gegenstände.

Josef und Meta Nierendorf planen in Berlin die Wiedereröffnung der ›Galerie Nierendorf‹. Hierzu kommt es jedoch zunächst nicht, da Josef, ebenfalls unerwartet, am 21. Juni 1949 verstirbt. Ein ungeordneter und weitgehend wertloser Galeriebestand ist zurückgeblieben. Zwischen 1949 und 1952 müssen Meta Nierendorf und ihr Sohn, Florian Karsch (1925–2015), die letzten geretteten Kunstwerke veräußern. Gemeinsam mit seiner späteren Ehefrau Inge Löw (1927–2013) gründet Karsch die Galerie 1955 unter dem neuen Firmennamen ›Galerie Meta Nierendorf‹ mit Räumen in Berlin-Tempelhof neu. Der Schwerpunkt der Galerie liegt in den ersten Monaten auf zeitgenössischen Künstlern, ab Jahresbeginn 1956 werden auch wieder Ausstellungen mit Werken von Künstlern gezeigt, die schon vor Schließung der Galerie Nierendorf 1939 dort ausgestellt wurden. So ist die erste Ausstellung ab 20.02.1956 der Grafik der »Brücke«-Künstler gewidmet . 1963 wird die Kunsthandlung in ›Galerie Nierendorf oHG‹ umbenannt und zieht in neue Räume in der Hardenbergstraße 19 in Berlin-Charlottenburg.

JL

10.08.2023

Literatur

Galerie Nierendorf: »Wirtschaftslage und Aussichten des Kunstmarktes«, in: DAS KUNSTBLATT, hrsg. v. Paul Westheim, 7. Jg., H. 10 (Oktober), Potsdam: Verlag Gustav Kiepenheuer, 1923, S. 300

1920–1970. FÜNFZIG JAHRE GALERIE NIERENDORF. RÜCKBLICK. DOKUMENTATION. JUBILÄUMSAUSSTELLUNG, Ausst.-Kat. Galerie Nierendorf, Berlin, 1970

ERNST LUDWIG KIRCHNER, Ausst.-Kat. Galerie Nierendorf, Berlin (06.12.1972–07.03.1973, kunstblätter der Galerie Nierendorf 27/28)

Roman Norbert Ketterer: DIALOGE, Bd. 2 Bildende Kunst. Kunsthandel, Stuttgart, Zürich: Belser Verlag, 1988, S. 370–375

Anja Walter-Ris: DIE GESCHICHTE DER GALERIE NIERENDORF: KUNSTLEIDENSCHAFT IM DIENST DER MODERNE BERLIN/NEW YORK 1920–1995, Diss. Freie Universität Berlin, 2003

Yvonne Groß: ZWISCHEN DIX UND MUELLER. DER BERLINER KUNSTHÄNDLER FLORIAN KARSCH UND DIE GALERIE NIERENDORF, hrsg. v. d. Galerie Nierendorf, Berlin, Berlin: Edition Andreae, 2014

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