Lesende

Erich Heckel

1924

Schwarze Kreide und Aquarell auf Vergé

Bildmaß 60,1 x 60,4 cm


Buchheim Museum der Phantasie, Bernried am Starnberger See


Inventarnummer: 1.03017

Alternativer Titel: Lesende Frau

Dargestellte Personen: Siddi Heckel

Zeichnung, Schwarze Pigmente, Wasserfarben


Sammlungsbereich: Arbeiten auf Papier

Künstler/in: Erich Heckel


© Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen; VG Bild-Kunst, Bonn; Reproduktion: Nikolaus Steglich, Starnberg
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Beschreibung

Beinahe meint man, der Frau gegenüberzustehen oder durch das Fenster eines Cafés zu schauen, in dem sie sitzt, während sie in die Lektüre des vor ihr liegenden Buches vertieft ist. Mit ihrer Linken stützt die »Lesende« ihren Kopf ab, während sie ihre Rechte zum Umblättern der Seiten bereits leicht angehoben hat. Erich Heckel nutzt für diese Darstellung einer »Lesenden« gedeckte Farbtöne, überwiegend Braun und Beige, zwischendrin finden Schwarz und Blau Verwendung, mit Deckweiß setzt Heckel helle Kontraste. Insbesondere während der Jahre 1919 bis 1925 entstehen mehrere porträtähnliche Darstellungen. Auch in diesem Bild, für das Heckels Frau Sidi Riha (mit bürgerlichem Namen Milda Frieda Georgi, 1891–1982) Modell gesessen haben könnte, geht es Heckel ausgehend von dem von ihm vergebenen Bildtitel, »Lesende«, nicht um das Erschaffen eines Porträts seiner Frau, sondern um die malerische Darstellung einer Alltagssituation aus seiner Umgebung.

Dank freundlicher Auskunft des Erich Heckel Nachlasses konnte das Entstehungsjahr 1924, das rechts unten im Bild mit Bleistift durch den Künstler dokumentiert wurde, bestätigt werden. Der Nachlass Heckel war es auch, der auf ein Voreigentum des Blattes durch den Kunsthändler J. B. Neumann (1887–1961) hinwies sowie auf die Veräußerung von »Lesende Frau« als Teil von Neumanns Sammlungsbestand am 24.05.1962 im Auktionshaus Klipstein & Kornfeld in Bern in der Auktion 105, Nr. 96.

Neumanns Zusammenarbeit mit Erich Heckel und damit seine Beziehung zum Künstler ist durch eine Gesamtausstellung von Heckels grafischem Werk vom 18.05. bis 31.07.1923 unter dem Titel DRUCKE 1905–1922. ERICH HECKEL in seiner Galerie, dem Graphischen Kabinett in Berlin, belegt. Noch in demselben Jahr emigriert Neumann auf dem Höhepunkt der Inflation in die USA, um dort im Folgejahr die Galerie J. B. Neumann’s Print Room in New York zu gründen. Die Leitung von Neumanns Berliner Galerie übernimmt der Kunsthändlerkollege Karl Nierendorf (1889–1947), der 1936 ebenfalls nach New York auswandert und 1937 dort die Nierendorf Gallery gründet, während sein Bruder Josef die Geschäfte in Berlin weiterführt. 1933 lösen Nierendorf und Neumann ihre geschäftliche Partnerschaft der Galerie Neumann–Nierendorf in Berlin auf, bleiben aber, wie ihre im Archiv der Galerie Nierendorf erhaltenen Korrespondenz belegt, in regelmäßigem Austausch. Die Kunsthistorikerin Anja Walter-Ris, die zur Geschichte der Galerie Nierendorf promotivierte, verweist auch auf den Austausch von Kunstwerken. Im Zusammenhang mit der Eröffnung der Nierendorf Gallery im Januar 1937 in New York, erwähnt Karl in einem Brief gegenüber seinem Bruder Josef, dass Neumann ihn mit Leihgaben oder/und der Weitergabe von Kunstwerken unterstütze: »Von J. B. N. und anderen Kunsthändlern kann ich mehr Material deutscher Maler bekommen. Ich will aber doch exportieren und nicht verkaufen, was hier im Lande ist; das ist doch nicht der Sinn. Also sende mir BALDIGST alles an gutem Material, was Du irgend entbehren kannst.«

Der Nachlass Erich Heckel nimmt an, dass Neumann das Aquarell durch seine direkte Beziehung zum Künstler im Nachgang seiner ersten Zusammenarbeit 1923 mit Heckel erwirbt und es bis zur Veräußerung in der Auktion 105 von Klipstein & Kornfeld in seinem Eigentum verbleibt. Schriftliche Quellen, die diese Annahme belegen könnten, konnten von uns bisher nicht gefunden werden. Im Katalog zur Auktion 105 sind jedoch drei Etiketten dokumentiert, die sich auf dem nicht mehr erhaltenen Rückseitenkarton des Aquarells befunden haben müssen. Dabei handelt es sich um drei Aufkleber der Nierendorf Gallery, New York, des Art Institutes, Chicago und der World House Gallery, New York. Mindestens letzterer konnte durch Abgleich mit dem entsprechenden Ausstellungskatalog zugeordnet werden: So belegt er, dass »Woman Reading« Teil der von Neumann organisierten Ausstellung MODERN GERMAN ART in den World House Galleries vom 29.10. bis 10.12.1958 gewesen ist. Nachdem sich der Kunsthändler 1956 mit seiner Galerie zur Ruhe setzt, beginnt er als Kunstberater für die von Herbert Mayer Senior (Lebensdaten unbekannt) 1953 gegründete Galerie, World House Galleries, zu arbeiten. In dem Vorwort des Kataloges MODERN GERMAN ART erläutert Neumann, dass Anlass zur Ausstellung das durch die vom Museum of Modern Art 1957 veranstaltete Ausstellung GERMAN ART OF THE TWENTHIETH CENTURY geweckte Interesse des New Yorker Publikums gewesen sei. Eine Eigentümerangabe gibt es zu »Woman Reading« in dem Katalog zwar nicht, aber es scheint wahrscheinlich, dass Neumann nicht nur als Organisator, sondern auch als Leihgeber für die Ausstellung agiert hat. Als Entstehungsjahr ist für das Aquarell 1927 angegeben. Auch für andere Ausstellungen agierte der deutsch-jüdische Kunsthändler als Leihgeber. So stellt er beispielsweise 1939 für die Ausstellung CONTEMPORARY GERMAN ART im Institute for Modern Art in Boston gemäß Ausstellungskatalog ein Gemälde und ein Aquarell von Erich Heckel zur Verfügung. Die von Walter-Ris in ihrer Promotion für die New Yorker Nierendorf Gallery gelisteten Ausstellungen wurden bezüglich einer möglicher Ausstellungsteilnahmen von »Lesende« so weit als möglich überprüft. Eine gesicherte Zuordnung des Etiketts gelang jedoch bisher nicht. Denkbar ist, dass das Aquarell Bestandteil der Ausstellung FORBIDDEN ART IN THE THIRD REICH, die im Oktober 1945 in der Nierendorf Gallery stattfand, gewesen ist. In dem begleitenden Katalog sind jedoch nur Biografien der ausstellenden Künstler – darunter auch Erich Heckel – dokumentiert. Exponate sind nicht einzeln aufgeführt.

In den sogenannten »J. B. Neumann Papers« in den Archiven des Museum of Modern Art in New York, unter denen sich auch sein unveröffentlichtes Manuskript »Confessions of an art dealer«, Korrespondenzen sowie Fotos von Kunstwerken und einige seiner Publikationen befindet, könnten sich weitere Herkunftshinweise zu dem Aquarell »Lesende« befinden. Aufgrund begrenzter Forschungsressourcen und da wir bisher keine Hinweise auf einen NS-verfolgungsbedingten Entzug für dieses Werk nach der Durchführung einer Rückseitenautopsie, umfangreicher Verlust- und Recherchedatenbanküberprüfungen sowie Literatur- und Ausstellungsrecherchen finden konnten, wurde diese Archivquellen nicht detailliert konsultiert.

Lothar-Günther Buchheim erwirbt die »Lesende« in Bern im Auktionshaus Kornfeld & Klipstein auf der Auktion 128 am 13.06.1968, also sechs Jahre, nachdem sie aus Neumanns Sammlung heraus bereits mindestens einmal den Eigentümer gewechselt haben muss, als Nr. 429 zusammen mit mehreren anderen Losen, wie ein Sammelzahlungs-auftrag an Kornfeld & Klipstein für diese und die Kirchner-Auktion vom 15.06.1968 aus dem Privatarchiv der Eheleute Buchheim belegt. Bisher ist noch nicht bekannt, wer der Einlieferer zur Berner Auktion 128 gewesen ist, so dass sich eine Provenienzlücke zwischen 1962 und 1968 ergibt.

Auch die Provenienz für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 ist nicht gesichert geklärt. Eventuell besteht eine Provenienzlücke. Die Herkunft muss weiter erforscht werden. Wir freuen uns über ergänzende Hinweise aus der Öffentlichkeit.

JL

16.08.2023

Beschriftungen

rekto u. r. signiert, betitelt und datiert (in Bleistift): Heckel 24 / Lesende
verso u. l. beschriftet (in Bleistift): 104
verso u. r. beschriftet (in Bleistift): I
verso u. r. beschriftet (in Bleistift): I

Provenienz

o. D.–24.05.1962: J. B. Neumann (1887–1961), Berlin/New York, vmtl. vom Künstler erworben
um Oktober 1945: evtl. Ausstellungsteilnahme, FORBIDDEN ART IN THE THIRD REICH, Nierendorf Gallery, New York/Institute of Modern Art, Boston
10/1958–12/1958: Ausstellungsteilnahme MODERN GERMAN ART, Ausst.-Kat. World House Galleries, New York/USA, Kat.-Nr. 38 (keine Besitzerangabe)
24.05.1962: Klipstein & Kornfeld, Bern, Auktion 105, Archiv und Teile der Sammlung J. B. Neumann, Nr. 96
[...]
13.06.1968: Kornfeld & Klipstein, Bern, Auktion 128, Nr. 429, eingeliefert von Besitzer-Nr. 214 gemäß Auftraggeberliste
13.06.1968–08.03.2014: Lothar-Günther (1918–2007) und Diethild Buchheim (1922–2014), Feldafing, erworben bei Kornfeld & Klipstein, Bern, Auktion 128
seit 08.03.2014: Buchheim Stiftung, Feldafing/Bernried, erworben im Erbgang von Diethild Buchheim (1922–2014), Feldafing

JL

16.08.2023

Sammlung Buchheim
Kunsthandel Nierendorf

Ausstellungen

ERICH HECKEL. EINFÜHLUNG UND AUSDRUCK, Buchheim Museum der Phantasie, Bernried am Starnberger See, 31.10.2020/09.03.2021–06.06.2021/20.06.2021

Literatur

ERICH HECKEL. EINFÜHLUNG UND AUSDRUCK, hrsg. v. Daniel J. Schreiber, m. Texten von Felix Billeter, Cosima Dollansky, Andreas Gabelmann, Hans Geissler, Hermann Gerlinger, Angelika Grepmair-Müller, Andreas Hüneke, Claudia Leonore Kreile, Christian Rathke, Daniel J. Schreiber, Heinz Spielmann, Corinna Thamke, Ausst.-Kat. Buchheim Museum, Bernried (31.10.2020–07.03.2021), Bernried: Buchheim Verlag, 2020, Abb. S. 324

AUKTION 128, MODERNE KUNST DES NEUNZEHNTEN UND ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS. SAMMLUNGEN UND WEITERE BESTÄNDE AUS VERSCHIEDENEN SCHWEIZERISCHEN UND AUSLÄNDISCHEN PRIVATSAMMLUNGEN, Kornfeld & Klipstein, Bern (13.–15.06.1968), Kat. Nr. 429, Abb. S. Tafel 34, Erw. S. 51

AUKTION 105. ARCHIV J. B. NEUMANN NEW YORK. ARCHIV UND TEILE DER SAMMLUNG J. B. NEUMANN, Klipstein & Kornfeld, Bern (24.05.1962), Kat. Nr. 96, Abb. S. Tafel 8, Erw. S. 14

MODERN GERMAN ART, Ausst.-Kat. World House Galleries, New York (29.10.-10.12.1958), 1958, Kat. Nr. 38

Weitere Werke