Drahtseilakrobaten

Beschreibung

Am oberen Blattrand ist die Perforation zu erkennen, an der der Bildträger aus einem Block gelöst wurde. Ernst Ludwig Kirchner fängt auf dieser Skizze den Moment ein, in dem eine Drahtseilakrobatin einen Spagat auf dem Seil vorführt. Dabei sind ihre Arme waagerecht ausgestreckt, in der linken Hand hält sie einen Schirm, um die Balance zu halten. Clelia Segieth, Kuratorin der Ausstellung UNBEKANNTE SCHÄTZE AUS DER BUCHHEIM'SCHEN EXPRESSIONISTENSAMMLUNG, vermutet, dass diese Zeichnung während oder nach einem Besuch Kirchners in einer Vorstellung des sogenannten »Millman-Trios« im Dresdner Victoria-Salon im November 1909 entsteht. Die drei Artistinnen und Artisten aus Colorado traten mehrfach in Dresden auf. Es ist überliefert, dass Kirchner gemeinsam mit seinem »Brücke«-Kollegen Erich Heckel (1883–1970) die Vorstellung besuchte. Auch Heckel ließ sich von der Darbietung des amerikanischen Trios inspirieren, wie sich an einer Radierung »Drahtseilartisten« von 1910 aus dem Bestand des Buchheim Museums erkennen lässt (Inv. 1.00029).

Die Schwierigkeit, die sich für ca. 70 unsignierte, undatierte und kaum mit Herkunftsmerkmalen versehene Papierarbeiten von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Forschungsbestand im Laufe des Projektes ergeben hatte, war es, den richtigen Erwerbungskontext durch Buchheim zu identifizieren und damit auch die werkrelevante Herkunft zu rekonstruieren. Ausgehend von internen Quellenrecherchen innerhalb der Katalogbestände in der Privatbibliothek der Eheleute Buchheim konnte festgestellt werden, dass Lothar-Günther Buchheim (1918–2007) mindestens zwei Sammelnummern mit insgesamt ca. 130 Blättern von Ernst Ludwig Kirchner zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten im Auktionshaus Kornfeld & Klipstein in Bern erwirbt. Wir danken dem Archiv Kornfeld herzlich für die kollegiale Unterstützung und Bestätigung, dass Buchheim in der Auktion 137 am 18.06.1970 Nr. 635 ein Konvolut »von 30 Blatt Zeichnungen und Skizzen« erwirbt sowie in der Auktion 142 am 10.06.1971 Nr. 543 ein Konvolut »von ca. 100 Blatt Zeichnungen und Skizzen« . Dokumentationen zu dem genauen Inhalt der Sammelnummern gibt es im Archiv der Galerie Kornfeld nicht. Die jeweils leicht unterschiedlichen Losbeschreibungen haben aber eins gemeinsam: beide Lose stammen ehemals aus der Sammlung Lise Gujer aus Davos-Sertig, wie im Katalog dokumentiert ist, auch wenn sie nicht als solche durch einen Stempelabdruck gekennzeichnet wurden. Da uns aufgrund fehlender einzelwerkrelevanter Angaben zu den ca. 130 Papierarbeiten keine Werkidentifizierung möglich war, haben wir ausgehend von den Angaben in den Losbeschreibungen die Zeichnungen Kirchners ihrem Motiv, damit auch ihrem Entstehungszeitraum, ihrer Darstellungsweise oder ihrer Größe nach einem oder alternativ beiden Erwerbungsmomenten zugeordnet. Da jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass Buchheim die eine oder andere Zeichnung Kirchners, die die erwähnten Charakteristika aufweist, in einem völlig anderen Kontext erworben hat, wurden die entsprechenden Provenienzangaben, wie auch bei dieser Zeichnung, mit einem »vermutlich« versehen.

Wie eingangs erläutert, entsteht die Zeichnung 1909/10 in Dresden, was mit der Entstehungszeit des Konvoluts Nr. 635 aus der Auktion 137 korrespondiert. Das Bildmaß von »Drahtseilakrobaten« ist jedoch deutlich kleiner als das für Nr. 635 dokumentierte, für das im Katalog zur Auktion 137 ein Bildmaß von »meist etwa 25:20 cm« angegeben ist. Die Papierarbeit hat nur ein Format von 9,9 x 10,7 cm. Folglich haben wir es der anderen Sammelnummer 543 zugeordnet, die Buchheim ein Jahr später, am 10.06.1971 erwirbt. Diese Zuordnung relativiert sich in ihrer Bedeutung in Bezug auf den Forschungsauftrag insofern, als dass die Papierarbeiten aus beiden Sammelnummern, wie bereits erwähnt, dieselbe erste Eigentümerin haben: es handelt sich um die Weberin Lise Gujer (1893–1967), die die Papierarbeiten aus Künstlerbesitz oder aus dem Nachlass Kirchners ab spätestens 1946 erwirbt (vgl. Chronologie Sammlung Gujer). Beide Konvolute bleiben bis zu ihrem Tod 1967 in ihrem Besitz. Konkrete werkbezogene Primärquellen gibt es für »Drahtseilakrobaten« jedoch nicht, so dass im Ergebnis nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Herkunft eine andere als die vermutete ist.

So schließen die Recherchen, ohne dass die Provenienz für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 eindeutig geklärt werden konnte. Möglicherweise bestehen Provenienzlücken. Die Herkunft muss bei Gelegenheit weiter erforscht werden.

JL

25.09.2024