Kind und Mädchen

Beschreibung

Das Jahr 1910, in dem dieses Aquarell entsteht, ist ein wichtiges Jahr für die Mitglieder der Künstlergemeinschaft »Brücke«. Im Frühjahr besucht Erich Heckel für einen Arbeitsaufenthalt seinen Künstler- und »Brücke«-Kollegen Max Pechstein (1881–1955) in Berlin. In der Ausstellung »Zurückgewiesene der Secession Berlin 1910« lernt er den Maler Otto Mueller (1874–1910) kennen, der im Jahr darauf ebenfalls der »Brücke« beitritt und mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbindet. Im Herbst 1910 findet die erste große »Brücke«-Ausstellung in der Dresdner Galerie Arnold statt. Im November 1910 bezieht Heckel dann ein neues Atelier An der Falkenbrücke 2a in Dresden.

Der Entstehungsort für diese Papierarbeit ist nicht überliefert. Dargestellt sind laut Beschriftung des Künstlers links unten auf der Bildseite ein »Kind und Mädchen«. Die beiden sitzen über Eck an einem Tisch in einem nur skizzenhaft ausgeführten Innenraum. Vor dem großen Mädchen, das ein schwarzes Kleid trägt, und recht damenhaft wirkt, liegt ein aufgeschlagenes Buch, aus dem es dem kleineren Mädchen in blauer Bluse vorzulesen scheint. Seine beiden Hände ruhen auf den Buchseiten, es dreht sich dem kleineren Mädchen zu und ist so im Profil zu sehen. Das in der Bildmitte an der Kopfseite des Tisches sitzende Mädchen wendet sich von ihm weg. Es hat seinen Ellenbogen auf den Tisch gestützt und den anderen Arm auf der Stuhllehne abgelegt, so dass es den Bildbetrachter anschaut. Trotzdem scheint es ins Gespräch vertieft zu sein. Oder diskutieren beide über den Inhalt des Buches? Heckel zeichnet die Szene mit Bleistift und Aquarell auf Maschinenpapier, das an mehreren Stellen als Leerfläche kompositorisch und farblich mitgenutzt wird.

Im Privatarchiv der Eheleute Buchheim konnte bisher keine Rechnung zu diesem Aquarell gefunden werden. Auch wird die Papierarbeit in den Briefen, die sich Heckel und Lothar-Günther Buchheim geschrieben und die sich im Ordner »Künstlerbriefe« im Privatarchiv der Eheleute Buchheim erhalten haben, nicht erwähnt. Eine Bildakte aus der Witt Library zu »Kind und Mädchen« erbrachte anhand der Dokumentation des Aquarells als Bestandteil der Auktion GERMAN EXPRESSIONIST & OTHER 20TH CENTURY PAINTINGS & SCULPTURES FROM THE LEONARD HUTTON GALLERIES im Auktionshaus Parke-Bernet Gallery in New York am 09.04.1969 einen ersten Hinweis für die Recherchen. Bei der Auktion wurden dem begleitenden Auktionskatalog und dem Titel der Auktion nach Werke aus den »LEONARD HUTTON GALLERIES« verkauft. In einem Brief vom 08.01.1969, der als Einleitung in dem Auktionskatalog abgebildet ist, erläutert der amerikanische Kunsthändler Leonard Hutton (unbekannt–1990), dass er aufgrund einer Umfirmierung und eines Umzugs der Leonard Hutton Galleries sowohl Werke aus dem Galerielagerbestand als auch aus seiner Privatsammlung in dieser Auktion zum Verkauf anbietet. Damit war das Werk zum Zeitpunkt der Auktion entweder Eigentum von Leonard Hutton oder seiner Galerie. Im Auktionskatalog befindet sich für »Kind und Maedchen« eine Literaturreferenz, die sich auf die New Yorker Ausstellung FAUVES AND EXPRESSIONISTS in der Leonard Hutton Galleries von 18.4. bis 12.6.1968 bezieht, so dass sich die Papierarbeit nachweislich spätestens im April 1968 in der Galerie befand. Eine Anfrage nach der Provenienz des Aquarells an die Leonard Hutton Galleries im Januar 2023 blieb bisher unbeantwortet. Der Nachlass Erich Heckel in Hemmenhofen hingegen lies auf Anfrage freundlich wissen, dass dieses Blatt gemäß ihrer Archivunterlagen bis zu seinem Verkauf im April 1967 an die Galerie Theo Hill Künstlereigentum gewesen sei. Ergänzend teilte der Nachlass mit, dass Buchheim »Kind und Mädchen« im Hamburger Auktionshaus Hauswedell & Nolte in der Auktion 193 als Nr. 606 am 15.06.1973 erworben habe. Der korrespondierende Auktionskatalog aus der Privatbibliothek der Eheleute Buchheim belegt anhand von Buchheims Preisannotationen in blauem Kugelschreiber und einem Kreuz mit Bleistift neben der Losnummer, sein besonderes Interesse an dem Aquarell.

Ab 1975 befindet sich »Kind und Mädchen« als Buchheims Leihgabe in der Villa Hammerschmidt, der Residenz des Bundespräsidenten in Bonn, 1974–1979 Walter Scheel (1919–2016), der mit dem Ehepaar Buchheim über mehrere Jahrzehnte hinweg in freundschaftlichem Kontakt stand, wie die überlieferte Korrespondenz im Privatarchiv der Eheleute Buchheim aus den Jahren 1972 bis 2013 sowie gemeinsame Fotos dokumentieren. Ob es erst 1981 zur ersten Station der Welttournee von Buchheims Sammlung in Köln oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt die Villa Hammerschmidt in Bonn verlässt, bleibt bisher ungeklärt.

Die Recherchen schließen mit zwei Provenienzlücken, diese liegen jedoch weit nach dem kritischen Zeitraum der NS-Diktatur. Zum einen bleibt offen, ob und wann genau das Aquarell Galerielagerbestand der Leonard Hutton Galleries in New York wird oder ob Leonard Hutton es für seine Privatsammlung erwirbt, bevor »Kind und Maedchen« im April 1969 für einen Hammerpreis von USD 2.750,– den Eigentümer wechselt. Ebenfalls bleibt offen, ob dieser neue Eigentümer auch derjenige ist, der es im Juni 1973 in Hamburg in der Auktion 193 des Auktionshauses Hauswedell & Nolte an Buchheim veräußert oder ob es in den dazwischen liegenden Jahren zu weiteren Eigentümerwechseln kommt.

Die Provenienz ist für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 vollständig rekonstruierbar und unbedenklich. Sie schließt einen NS-verfolgungsbedingten Hintergrund aus, so dass eine weitere Überprüfung nicht notwendig ist. Wir freuen uns über ergänzende Hinweise aus der Öffentlichkeit zu den noch offenen Fragen.

JL

30.05.2023