Liebespaar

Beschreibung

Während Ernst Ludwig Kirchners Schaffenszeit in Dresden und Berlin entstehen viele Aktzeichnungen. Thematisch befasst sich Kirchner auch mit Darstellungen von Liebespaaren, wie auch in dieser Zeichnung. Auf der linken Blattseite ist ein Mann zu sehen, der auf einem Hocker neben einem Bett sitzt, sein linkes Bein hat er angezogen und auf dem Hocker abgestellt. Kirchner platziert den männlichen Akt zwar am Darstellungsrand, setzt ihn kompositorisch jedoch dadurch, dass der Dargestellte geradeheraus aus dem Bild schaut in direkte Beziehung zu dem Betrachter. Auf dem Bett, das hinter dem Mann steht, posiert ein weiblicher Akt. Beide stecken scheinbar ihre Köpfe zusammen, wenn nicht aus der Position des Bettes ersichtlich wäre, dass sich der Mann im Bildvorder- und die Frau im Bildmittelgrund befinden. Sie liegt auf ihrer Körperseite dem Betrachter zugewandt, die Beine breitbeinig auf dem Bett abgestellt und über die Kante hängend, so dass ihre Scham zentral im Bildzentrum liegt. Der Titel der Zeichnung suggeriert, dass es sich bei den Dargestellten um zwei Liebende, möglicherweise Kirchner und seine Lebenspartnerin Erna Schilling handelt, die Kirchner 1911 in Berlin in einem Tanzlokal kennenlernt und die ihm Muse und Model zugleich war.

Auch diese Zeichnung signiert und datiert Kirchner vermutlich erst, als Frédéric Bauer (1883–1957) sie von ihm erwirbt, denn ein bevorstehender Eigentumswechsel oder Ausstellung waren Anlass für den Künstler, Datierung und Signatur zu ergänzen. Der genaue Zeitpunkt des Eigentumserwerbs konnte im Rahmen des Projektes nicht geklärt werden. Gesichert ist, dass diese Bleistiftzeichnung Teil des ersten Sammlungskonvoluts ist, das Bauer in der 18. Auktion im Stuttgarter Kunstkabinett zwischen dem 24. bis 26.11.1953 veräußert. Bereits ab 1952, als er sich als Chefarzt des Davoser Parksanatoriums zur Ruhe setzt und seinen Wohnsitz von Davos nach Etoy verlegt, plant er seine Sammlung etappenweise zu veräußern. Alle Werke, die Bauer zur 18. Auktion einliefert, sind im Katalog durch ein entsprechendes Vorwort als aus der Sammlung Bauer stammend angekündigt und belegt. Darüber hinaus sind die entsprechenden Losnummern im Auktionskatalog mit werkbezogenen Literaturreferenzen zum Ausstellungskatalog ERNST LUDWIG KIRCHNER. GEMÄLDE UND GRAPHIK DER SAMMLUNG DR. F. BAUER, DAVOS im Haus der Kunst in München vom 25.10. bis 14.12.1952 versehen. Lothar-Günther Buchheim erwirbt das »Liebespaar« als Los-Nr. 1875, wie uns aufgrund fehlender Rechnungsunterlagen vom Archiv Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer freundlich bestätigt werden konnte. Ein Abgleich zwischen im Kunstmarkt ab 1948 bis 1990 überlieferten Zeichnungen der »Brücke«-Künstler auf Basis der in der Privatbibliothek der Eheleute Buchheim überlieferten Auktionskataloge mit dem Forschungskonvolut hatte zu der Identifizierung der 18. Auktion des Stuttgarter Kunstkabinetts als Erwerbsquelle für die Bleistiftzeichnung geführt.

Man darf davon ausgehen, dass es sich bei dem im Bild überlieferten Entstehungsjahr »08«, um eine Vordatierung handelt. Der Kunsthändler und Auktionator Robert Norbert Ketterer weist im Auktionskatalog bewusst darauf hin, dass die Datierung der einzelnen Kunstwerke auf den hand-schriftlichen Angaben des Künstlers beruhe. Er schreibt: »In einer Reihe von Fällen ist diese Datierung offensichtlich später aus dem Gedächtnis gemacht worden.« Auch Lothar-Günther Buchheim muss dieser Einschätzung gefolgt sein, denn auf der großen Wanderausstellung der Sammlung Buchheim in verschiedenen Museen in Köln, Straßburg, Kiel, St. Petersburg, Moskau, Mainz, Duisburg und vielen weiteren Städten weltweit von 1981 bis 1991, orientiert er sich nicht an der Aufschrift, sondern datiert das »Liebespaar« »um 1912«.

Die Provenienz ist für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 rekonstruierbar und unbedenklich. Sie schließt einen NS-verfolgungsbedingten Hintergrund aus.

JL

21.09.2023