Mädchenakt

Beschreibung

Die umseitig angebrachte Beschriftung in Bleistift »Mädchenakt« ist titelgebend für diese Zeichnung von Ernst Ludwig Kirchner. Tatsächlich scheint es sich jedoch eher um die Darstellung eines Frauenakts zu handeln: Eine Frau liegt nackt mit voll entwickelten Brüsten und sichtbarer Schambehaarung abgewandt vom Betrachter auf dem Rücken. Sie hebt ihren Kopf leicht an, so dass ihr Gesicht im Profil zu sehen ist. Ihre Beine hat sie angewinkelt quer ins Bild auf den Boden gestellt. Vielleicht liegt sie auch auf einem Sessel oder einem kleinen Sofa, lehnt ihren Kopf gegen eine Armlehne und lässt die Beine über die anderen baumeln. In der Art der Darstellung ergibt sich eine ungewöhnliche Perspektive für den Betrachter, bei der man der Frau auf Bauch und Scham sowie ihre hoch aufragenden Oberschenkel schaut. Kirchner malt den weiblichen Akt in feinen Strichen mit farbiger Kreide, die Konturen des Körpers zieht er mit breitem Strich in anderer Farbe nach. Auch die Umgebung wird durch kurze, feine Striche und breitere Linien angedeutet, wodurch der Frauenkörper farblich eingerahmt und bildlich eingebettet wird.

Kirchners zeichnerisches Oeuvre ist sehr umfangreich. Nach wie vor gibt es dafür kein Werkverzeichnis, obwohl es den Recherchen mehrerer Kirchner-Forscher nach die von ihm am häufigsten verwendete Technik ist. Roman Norbert Ketterer (1911–2002) baute als Nachlassverwalter ein Zeichnungs-Archiv auf, das heute als Teil des Ernst Ludwig Kirchner Archivs von der Galerie Henze Ketterer, namentlich Wolfgang Henze und Ingeborg Henze Ketterer, in Wichtrach systematisch ergänzt und gepflegt wird. Auch diese Papierarbeit wurde umseitig, wie einige andere aus dem Sammlungsbestand des Buchheim Museums, ab 1946 im Depot des Basler Museums mit dem Nachlass-Stempel des Kirchner-Nachlasses gekennzeichnet, so dass sich eine lückenlose Provenienz bis mindestens 1946 ergibt.

Die Rückseitenautopsie erbrachte noch einen weiteren herkunftsrelevanten Hinweis durch eine in Bleistift angebrachte Zahlenfolge »2679/21«. Zwar konnte nicht entschlüsselt werden, worauf sich die erste Zahlenfolge bezieht – möglicherweise die Einlieferer- bzw. Kundennummer, die Zahl »21« belegt aber, dass die Zeichnung Teil der 21. Auktion des Stuttgarter Kunstkabinetts gewesen ist. Eine ebensolche Ziffernfolge, bei der sich die letzte Zahl auf die 21. Auktion bezieht, ist auch auf einer anderen Zeichnung des Buchheim Museums zu finden (vgl. Inv. 1.00199). Ein Abgleich mit dem in der Privatbibliothek der Eheleute Buchheim überlieferten Auktionskataloge zu der 21. Auktion, die vom 24. bis 27.05.1955 in Stuttgart stattfand, erbrachte eine Übereinstimmung nach Beschreibung und Blattmaß mit Kat-Nr. 1377. Das Archiv des Stuttgarter Kunstkabinetts Roman Norbert Ketterer bestätigte freundlich, dass Kat.-Nr. 1377, »Liegender weiblicher Akt«, von »von der Goltz« eingeliefert wurde, aber unverkauft blieb. Auch Buchheim notiert sich in sein Katalogexemplar neben der Zeichnung das Kürzel »ZK«, das er - so die Erkenntnis aus dem Forschungsprojekt im Abgleich der von Buchheim genutzten Annotationen in den Auktionskatalogen der Privatbibliothek der Eheleute Buchheim - für unverkaufte Lose nutzte. Es ist nicht gesichert, über welche Erwerbungsquellen oder wann der Kirchner-Sammler Rüdiger Graf von der Goltz (1894–1976) aus Düsseldorf, der auch als Voreigentümer des Kirchner-Gemäldes »Zwei Freunde im Gespräch« des Buchheim Museums (Inv. 0.00011a) dokumentiert ist, »Mädchenakt« erworben hat. Ungeklärt bleiben vorerst auch die Erwerbungsumstände, unter denen Buchheim die Zeichnung gekauft hat. Gesichert ist nur, dass es zwischen 1955 und 1959, dem Jahr, in dem die Zeichnung in der Ausstellung DIE MALER DER BRÜCKE, SAMMLUNG BUCHHEIM als Teil der Sammlung Buchheim in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München vom 18.06. bis 26.07.1959 ausgestellt wird, gewesen sein muss. Rechnungsunterlagen zu »Mädchenakt« konnten im Privatarchiv der Eheleute Buchheim von uns bisher nicht gefunden werden.

Trotz der ungeklärten Erwerbungsumstände ist die Provenienz für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 rekonstruierbar und unbedenklich. Sie schließt einen NS-verfolgungsbedingten Hintergrund aus, die Provenienz ist lückenlos, eine weitere Überprüfung ist nicht notwendig. Trotzdem freuen wir uns über Hinweise, die die Provenienz nach 1946 schließen ließe.

JL

10.08.2023