In einem Berliner Lokal
Ernst Ludwig Kirchner
1913/14
Bleistift auf Papier, aus Skizzenbuch herausgetrennt
Bildmaß 20,6 x 17,0 cm
Buchheim Museum der Phantasie, Bernried am Starnberger See
Inventarnummer: 1.06372
Zeichnung, Schwarze Pigmente
Ort: Europa, Deutschland, Berlin
Sammlungsbereich:
Arbeiten auf Papier
Künstler/in: Ernst Ludwig Kirchner
Reproduktion: Bildarchiv Buchheim Museum
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Beschreibung
Für diese Bleistiftzeichnung wählt Ernst Ludwig Kirchner eine Perspektive von schräg oben. So schauen wir in ein Berliner Café oder Restaurant, in dem wir zwei Tische sehen, an denen je zwei Personen sitzen. Insbesondere die mittig angeordnete Figur sticht hervor, da ihre Körperhaltung durch mehrere Striche dunkler hervorgehoben ist als die der anderen. Ob es ein Mann oder eine Frau ist, ist nicht klar erkennbar. Nur das dunkle Hosenbein lugt unter dem Tisch hervor, auf den die Person ihren Arm abgestützt hat. Links im Bild hinter der zweiten Person am Tisch steht eine hohe Säule, an der Garderobenhaken befestigt sind, die eine dunkle undifferenzierte Menge an Mänteln und Jacken tragen. Im Bildhintergrund ermöglicht ein großer Fensterbogen den Blick auf eine Straße mit Gehweg, auf dem ein Mann mit hohem Hut an dem Lokal vorbeispaziert.Für die von Clelia Segieth kuratierte Ausstellung UNBEKANNTE SCHÄTZE AUS DER BUCHHEIM'SCHEN EXPRESSIONISTENSAMMLUNG, die vom 08.07. bis 07.10.2012 im Buchheim Museum stattgefunden hat, recherchierte Segieth den bildlichen Kontext, in dem diese Zeichnung ihrer Ansicht nach entstanden ist. Dabei stellt sie dieses Werk in direkte Beziehung zu den sogenannten »Straßenszenen« Kirchners, von denen sich auch zwei Zeichnungen im Sammlungsbestand des Buchheim Museums befinden (Inv. 1.00228a und 1.00282). Das städtische Treiben, das pulsierende Leben, wie Gerd Presler es beschreibt, ist in der Metropole Berlin viel stärker ausgeprägt als in der viel kleineren sächsischen Hauptstadt. Kirchner steht ihm nach seinem Umzug von Dresden nach Berlin zunächst fremd gegenüber, ab 1912 erschließt sich ihm die Millionenstadt aber als Ort der Dynamik, Begegnung und Bewegung. Dabei sind die Berliner Cafés, die Straßen mit Autos, Droschken und Lichtern ebenso Teil der Großstadt, wie das Gedränge und die versteckt und doch offensichtlich offerierten Liebesdienste der Kokotten, weil die staatlich konzessionierten Bordelle in Berlin seit 1846 abgeschafft worden waren.
Die Schwierigkeit, die sich für ca. 70 Papierarbeiten von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Forschungsbestand und damit auch für die »In einem Berliner Lokal« im Laufe des Projektes ergeben hatte, war es, den richtigen Erwerbungskontext durch Buchheim zu identifizieren und damit auch die werkrelevante Herkunft zu rekonstruieren. Dieses und mehrere andere Blätter aus dem Forschungsbestand haben gemeinsam, dass sie alle von Ernst Ludwig Kirchner stammen, undatiert sind, keine Herkunftshinweise wie Nachlass-Stempel aufweisen und entweder aus einem von Kirchners zahlreichen Skizzenbüchern herausgelöst wurden oder einen skizzenhaften Charakter haben wie dieses hier. Diese objektrelevanten Angaben verweisen auf den Ankauf von mindestens zwei Sammelnummern mit insgesamt ca. 130 Blättern von Ernst Ludwig Kirchner durch Lothar-Günther Buchheim (1918–2007) zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten im Auktionshaus Kornfeld & Klipstein, die die Recherchen in den in der Privatbibliothek der Eheleute Buchheim überlieferten Auktionskataloge belegen. Wir bedanken uns in diesem Zusammenhang herzlich für die kollegiale Unterstützung durch das Archiv Kornfeld, die uns Buchheims Erwerbung der Sammelnummer 635 in der Auktion 137 am 18.06.1970 »von 30 Blatt Zeichnungen und Skizzen« bestätigte, aber auch seinen Erwerb der Sammelnummer 543 in der Auktion 142 am 10.06.1971 »von ca. 100 Blatt Zeichnungen und Skizzen« . Dokumentationen zu dem genauen Inhalt der Sammelnummern gibt es im Archiv der Galerie Kornfeld nicht. Die jeweils leicht unterschiedlichen Losbeschreibungen haben aber eins gemeinsam: beide Sammelkonvolute stammen ehemals aus der Sammlung Lise Gujer aus Davos-Sertig, wie im Katalog dokumentiert ist, auch wenn sie nicht als solche durch einen Stempelabdruck gekennzeichnet wurden. Da uns aufgrund fehlender einzelwerkrelevanter Angaben zu den ca. 130 Papierarbeiten keine Werkidentifizierung möglich war, haben wir ausgehend von den Angaben in den Losbeschreibungen die Zeichnungen Kirchners ihrem Motiv, ihrer Darstellungsweise oder ihrer Größe nach einem oder alternativ beiden Erwerbungsmomenten und damit Sammelnummern zugeordnet. Da jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass Buchheim die eine oder andere Zeichnung Kirchners, die die erwähnten Charakteristika aufweist, in einem völlig anderen Kontext erworben hat, wurden die entsprechenden Provenienzangaben, wie auch bei dieser Zeichnung, mit einem »vermutlich« oder sogar »eventuell« versehen.
Die Losbeschreibung von Nr. 635 aus der Auktion 137 korrespondiert mit dieser Bleistiftskizze aufgrund des Verweises auf die Entstehungszeit des Konvoluts mit der Angabe »30 Blatt Zeichnungen und Skizzen in versch. Techniken und leicht differierenden Formaten, meist etwa 25:20 cm. 30 Blatt Zeichnungen aus der Dresdner und Berliner Zeit mit zum Teil ausgeführten Blättern.« Diese Skizze lässt sich aufgrund des Bildmotivs eines Lokals oder Cafés in Berlin dieser Sammelnummer zuordnen, auch wenn das Blattformat etwas kleiner ist als das in der Sammelnummer angegebene.
Selbst wenn Buchheim die Zeichnung nicht in der Auktion 137, sondern ein Jahr später in der Auktion 142 erworben haben sollte, bleibt die Herkunft und damit die Provenienzkette vor Erwerbungszeitpunkt identisch: Lise Gujer (1893–1967) erwirbt die Papierarbeit aus Künstlerbesitz oder aus dem Nachlass Kirchners. Zu der Entstehung der Sammlung Lise Gujer wurde eine separate Chronologie verfasst.
Aufgrund dessen, dass die Zuordnung dieser Papierarbeit zu dem geschilderten Erwerbungszeitpunkt ohne konkrete werkbezogene Primärquelle rekonstruiert wurde und somit im Ergebnis nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Herkunft eine andere als die vermutete ist, schließen die Recherchen, ohne dass die Provenienz für den Zeitraum zwischen 1933 und 1945 eindeutig geklärt werden konnte. Möglicherweise bestehen Provenienzlücken. Die Herkunft muss bei Gelegenheit weiter erforscht werden.
JL
05.09.2024
Beschriftungen
keine Aufschriften, Stempel oder EtikettenProvenienz
spät. 1946–1967: vmtl. Lise Gujer (1893–1967), Davos-Sertig, erworben aus Künstlerbesitz oder aus Nachlass Kirchner1967–18.06.1970: vmtl. Erben Gujer
18.06.1970: Kornfeld & Klipstein, Bern, Auktion 137, vmtl. Nr. 635 Teil von Sammelkonvolut (Werkzuordnung zum Konvolut ungesichert, aber aufgrund von Motiv wahrscheinlich), eingeliefert von vmtl. Erben Gujer
vmtl. 18.06.1970/spät. 2004–08.03.2014: Lothar-Günther Buchheim (1918–2007) und Diethild Buchheim (1922–2014), Feldafing, erworben vmtl. bei Kornfeld & Klipstein, Bern, Auktion 137
seit 08.03.2014: Buchheim Stiftung, Feldafing/Bernried, erworben im Erbgang von Diethild Buchheim (1922–2014), Feldafing
JL
05.09.2024
Sammlung Lise Gujer
Sammlung Buchheim
Literatur
UNBEKANNTE SCHÄTZE AUS DER BUCHHEIM'SCHEN EXPRESSIONISTENSAMMLUNG, hrsg. v. Clelia Segieth, Ausst.-Kat. Buchheim Museum, Bernried (08.07–07.10.2012), Feldafing: Buchheim Verlag, 2012, Kat. Nr. 32, Abb. S. 57, Erw. S. 67AUKTION 137, MODERNE KUNST DES NEUNZEHNTEN UND ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS. SAMMLUNG G.B.Z., H. VON H., L. K. UND WEITERE SAMMLUNGEN UND BESTÄNDE AUS VERSCHIEDENEN SCHWEIZERISCHEN UND AUSLÄNDISCHEN PRIVATSAMMLUNGEN, Kornfeld & Klipstein, Bern (17.–19.06.1970), Kat. Nr. vmtl. 635